23
Judy saß wirklich sehr, sehr still auf dem Rücksitz von Antonias Van, bei vollem Bewusstsein und entspannt und anscheinend ganz unberührt von den gewaltsamen und übernatürlichen Vorgängen der letzten Viertelstunde.
»Deine Ermahnung vorhin war ein ziemlicher Hammer, Stella«, sagte Antonia, während sie auf die entspannte Judy starrten.
»Ich hab sie doch nur gebeten, still zu sein und nicht pausenlos herumzuquengeln.« Stella schnürte es die Kehle zusammen. »Ich hätte nie gedacht …«
»Wie mächtig du bist?« Gwyltha war stillschweigend von hinten an sie herangetreten. »Mir scheint, Justin muss mal ein bisschen mit dir üben, wie du deine Kräfte einsetzt. Starke Emotionen bringen einen außer Kontrolle. Da solltest du beim nächsten Mal lieber aufpassen.«
Bitte! Bloß kein nächstes Mal mehr. Auch eine Vampirmutter war nicht dagegen gefeit, zu leiden wie ein Hund und vor Angst beinahe zu sterben. Auch wenn der Nachwuchs mittlerweile glücklich auf einer grünen Lichtung saß und einem Puma das Fell kraulte. Dabei schien es Sam oder seinen neuen Freund aus dem Reich der Großkatzen gar nicht zu kümmern, dass er über und über voller Blut war. »Wir müssen ihn schleunigst wegbringen«, sagte Stella. Es konnte jederzeit ein Trupp Pfadfinder aus dem Unterholz brechen oder eine Gruppe Wanderer den Trampelpfad heranmarschiert kommen.
»Sehr richtig«, sagte Gwyltha. »Bring Sam aus der Schusslinie. Wir machen inzwischen der Polizei Beine. Und hoffentlich bringt sie die Kanone, die hier rumliegt, auf eine weitere Spur – nämlich die des ermordeten Wachmanns. Damit dürften sie gehörig in die Bredouille kommen.« Sie stand auf dem Pfad und überblickte den Schauplatz wie ein General, der seine Truppen befehligt. »Stella, du übernimmst Sam, machst ihn sauber und nimmst ihm sämtliche Erinnerungen, die weg müssen. Antonia, du steigst zu Stella in den Van; Elizabeth, du auch. Justin, ist dieser Mann transportfähig?«
Ihr knappes Nicken in Richtung James zerrte an Stellas Nerven. »Dieser Mann hat mein Kind gerettet und dafür selbst ’ne Kugel abgekriegt.«
»Ja, Stella«, erwiderte Gwyltha, eine Augenbraue gezückt. »Dessen bin ich mir bewusst. Deshalb versuche ich auch, ihn zu retten.« Okay, Zeit den Mund zu halten. »Wie sieht’s aus, Justin?«, fragte Gwyltha.
»Ja, aber nur für eine kurze Strecke. Er muss ins Krankenhaus.«
»Alles klar. Wir bringen ihn in deinem Auto in die nächste Klinik. Wir erzählen denen einfach, wir wollten Stella besuchen und hätten die falsche Abzweigung genommen. Schließlich sind wir hier gelandet und sahen ihn auf uns zustolpern. Er wurde ohnmächtig, worauf du ihm in Erfüllung deiner ärztlichen Pflicht Erste Hilfe geleistet hast, um ihn im Anschluss daran auf schnellstem Weg in die Klinik zu bringen.
Tom, du könntest auch noch mit Elizabeth mitfahren. Dieser Van ist sicher groß genug. Unsere beiden schlafenden Schönheiten lassen wir samt allem belastenden Material einfach liegen.«
»Was ist, wenn man die beiden mit Sam und James in Verbindung bringt?«, fragte Elizabeth.
»Kein Problem. James wird sich nicht daran erinnern, wie oder warum es dazu kam, dass er entführt und angeschossen wurde. Man wird ihm das als Gedächtnisverlust infolge des Schocks auslegen. Und das Blut im Van dürfte reichen, den Zusammenhang mit den beiden Hübschen hier herzustellen.«
»Was ist mit Michael?«, fragte Sam, als er, gefolgt von der Katze, herankam. »Kann er mit uns mitfahren?«
»Ich hab eine bessere Idee«, sagte Antonia mit einem Blick in Richtung Gwyltha, um ihre Zustimmung einzuholen. »Michael« – der Puma spitzte die Ohren – »Stella wird Sam zu dir nach Hause bringen, um ihn sauber zu machen. So wie er jetzt aussieht, können sie unmöglich im Hotel aufkreuzen. Ist das in Ordnung?«
Michael gab einen Ton wie ein lautes Schnurren von sich, streifte zuerst an Sams, dann an Antonias Beinen entlang, um dann in Richtung der Bäume davonzutraben.
»Kluges Kind!« Gwyltha sah in die Runde. »Na, dann weiß ja jeder, was er zu tun hat. Also los.«
Tom übernahm das Steuer, nachdem sie Elizabeth, Antonia und Judy vor Orchard House abgesetzt hatten. Judys Gedächtnis würde sich wieder einpendeln, und irgendwann würde sie von James mysteriösem Unfall hören. Mit Hilfe von Antonias Wegbeschreibung fanden sie Michaels Haus, oder vielmehr seine Siedlung. Als Tom sie aussteigen ließ, starrte Stella auf das Sammelsurium von Nebengebäuden. Michael erwartete sie an der Haustür, zurückverwandelt und angezogen, als hätte er den ganzen Nachmittag gearbeitet.
»Sieht ja super aus hier«, sagte Sam. »Da werd ich gleich mal fragen, ob ich mich umsehen darf.«
»Du wirst gar nichts machen, ehe du nicht sauber bist«, warnte ihn Stella. Da seine Kleider vor getrocknetem Blut starrten, gehorchte er, zog sich aus und ging unter die Dusche.
»Soll ich seine Kleider nicht lieber verbrennen?«, fragte Michael. »Die kriegst du doch nie mehr sauber.«
Gute Idee, nur … »Was soll er dann anziehen?«
»Frag doch Antonia, ob sie Ersatz aus dem Hotel bringen könnte. Oder er leiht sich von mir was aus, und wir krempeln die Hosenbeine einfach hoch.«
Ja, es fand sich für alles eine Lösung. »Dann verbrenn sie, bitte.« Michael brachte die Sachen weg.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Sam Seife und ein Handtuch hatte, ging Stella zurück in Michaels Wohnzimmer. Als sie auf die Uhr sah, war sie verblüfft. Es war weniger als eine Stunde vergangen, seit sie in der Küche über diesen gefaxten Tagebuchseiten gesessen hatten.
Sie fühlte sich plötzlich unendlich müde und setzte sich. Wie musste sich Sam wohl erst fühlen? Am Ende seiner Kräfte höchstwahrscheinlich, und, verflixt noch mal, sie musste noch diese Erinnerungen von ihm nehmen. Das war immer eine kniffelige Angelegenheit, und nun, da sie Judy halb ins Koma geschickt hatte, graute ihr regelrecht davor, aber seit wann hatte man es schon leicht als Mutter? Ängste und Sorgen waren ein fester Bestandteil der Tätigkeitsbeschreibung.
Sie wollte, Justin wäre hier gewesen. Seine starke Schulter zum Anlehnen hätte ihr gutgetan, aber er war im Auto unterwegs mit einem Schwerletzten und seiner Exgeliebten.
Schluss jetzt! Sie sollte sich mal am Riemen reißen. Einfach lächerlich ihr Verhalten, und sie wusste es auch, aber sobald Gwyltha im Spiel war, fühlte sie sich auf miese Art und Weise verunsichert. Dabei hatte sie keinerlei Grund dazu. Nicht um einen von Sams sterblichen Herzschlägen hätte sie an Justins Loyalität ihr gegenüber gezweifelt oder gar seiner Liebe zu ihr und Sam, und gerade jetzt sollte sie ihre Verunsicherung lieber beiseiteschieben und sich auf Sam konzentrieren. Er brauchte eine Mutter, die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte war.
Sie versuchte, soweit es ging, sich zu entspannen, bis Sam angetrottet kam. Ihr kleiner Süßer, gesund und wohlbehalten, mit nassen, überall abstehenden Haaren und mit nichts als seiner Unterhose auf dem Leib, das einzige Kleidungsstück, das nicht blutverschmiert war. Da war so viel Blut gewesen. Sie wünschte sich so sehr, sie würden mit James rechtzeitig ins Krankenhaus kommen. Was auch immer er früher verbrochen hatte oder auch nicht, er hatte sich für Sam eingesetzt, und in Stellas Augen war er damit so gut wie rehabilitiert.
»Ich hab Hunger, Mum. Und wo sind überhaupt meine Sachen?«
»Michael verbrennt sie gerade.« Sie verzichtete auf eine Erklärung – Sam runzelte nur kurz die Stirn und wusste sofort Bescheid. »Wir sorgen für Ersatz, und was das Essen angeht …« Sie ließ ihren Blick durch die Küche schweifen. Zum Glück aßen Gestaltwandler normal. Auf der Arbeitsplatte gab es eine Schale mit Äpfeln, eine Packung Cracker und einen Laib Brot, und sie hätte gewettet, dass der Kühlschrank gut bestückt war. »… bitte ich dich, noch ein wenig zu warten, bis er zurückkommt.«
Michael kam erfreulicherweise schon nach wenigen Minuten wieder, und als Antonia wenig später mit frischen Anziehsachen für Sam ankam – Michael hatte Antonia netterweise angerufen –, verdrückte dieser bereits den Rest seines zweiten Käsebrots, um sich gleich darauf über einen Apfel herzumachen. Die Robustheit der Jugend! Aber Stella wollte ihr Glück nicht überstrapazieren. Heute Abend würden sie ganz bestimmt nach Yorkshire zurückfahren.
»Und nun?«, fragte sie, nachdem sie Sam weggeschickt hatte, damit er sich anzog. »Soweit alles in Ordnung?« Sie bemerkte zu spät, dass Michael direkt neben Antonia stand. Egal. Er gehörte sowieso längst zur Kolonie.
»Soweit ja«, erwiderte Antonia. »Wir haben Judy mit ins Haus genommen und alles gelöscht, was sie nicht unbedingt wissen muss. Danach ist sie nach Hause gefahren, den Kopf voller Pläne für Kissenentwürfe in Form von Nadelkissen.«
»Gut.« Es ließ sich nicht vermeiden.
»Einen Moment«, sagte Michael, »ihr habt ihr einfach die Erinnerung an den Zwischenfall weggenommen?«
Stella bemerkte seine Empörung und Fassungslosigkeit, Antonia offenbar nicht. »Ja. Das ist für alle das Beste. Wozu soll sie sich an etwas erinnern, das ihr nur Albträume bescheren würde. So werde ich sie jetzt, sobald wir von Justin grünes Licht bekommen, einfach anrufen und ihr sagen, James liegt im Krankenhaus von Dorking, es gehe ihm gut und sie könne ihn besuchen und ihm Weintrauben und einen Strauß Blumen mitbringen.«
Michaels schreckgeweitete Augen wurden immer noch größer. »Wie wollt ihr denn so ein Vorgehen moralisch rechtfertigen?«
Antonia würde ihm schon alles erklären. Im Moment beschäftigte Stella nur der Gedanke, Sam möglichst schnell von hier wegzubringen. Sie fragte sich noch, wo Tom und Elizabeth überhaupt abgeblieben waren, konnte es sich aber denken. »Du bist mit dem Van da, Antonia?«
Ein weiter Sprung von der Verteidigung der Kolonie zum Thema Auto, aber sie blickte dennoch auf. »Der Van?«
»Ja, der Van. Das Ding, mit dem du durch die Gegend kurvst. Ich will es mir leihen, um Sam zum Hotel zurückzubringen, und ich denke mal, du musst dich ausgiebig mit Michael unterhalten, ohne dass euch ein Zehnjähriger belauscht.«
»Jetzt hab ich’s verstanden«, sagte sie und hielt ihr die Schlüssel hin. »Wir sehen uns später.«
Der Stimmung nach zu urteilen, die zwischen den beiden gerade herrschte, könnte das sehr bald sein … oder Tage später. Das war nicht ihr Bier. Ihre Sorge galt Sam.
»Komm, Sam. Wir verduften.«
»Ja, Mum. Nur noch Schuhe anziehen.«
Sie waren blutverschmiert, aber da konnte man jetzt nichts machen. Sie würde später versuchen, sie abzuwaschen. »Gut, Sam. Sag noch schnell Tschüs, und dann düsen wir ab.«
Er umarmte Antonia und drückte sie fest. »Komm doch zum Abendessen zurück«, sagte er. »Elizabeth wird die Extraportion brauchen nach ihrem Auftritt als Ghul.«
»Ja«, sagte Michael zögerlich, »was war das eigentlich vorhin mit Elizabeth?«
Sam sah zuerst sie, dann Antonia erstaunt an. »Weiß er nicht Bescheid?«
Nein, wusste er nicht, und sie betrachtete es wahrlich nicht als ihre Aufgabe, es ihm zu erklären. Sie sah zu Antonia.
Antonia nickte, als wollte sie damit sagen, ja, ich mach’s. »Ich glaube, er weiß Bescheid, Sam, zumindest ahnt er was, aber er versteht es nicht.«
Sam legte die Stirn in Falten. »Ich dachte, wissen und verstehen wäre das gleiche. Irgendwie.«
»Hab ich auch gedacht, Sam«, sagte Michael. »Aber ich versteh’s nicht. Ich hab gesehen, wie sie sich verwandelt hat, zumindest ihr Gesicht und ihre Hände, aber sie hat sich nicht so verwandelt wie dein Vater und dieser andere Mann. Der andere Vampir vielmehr – stimmt doch, oder?«
Antonia sah aus, als wäre ihr danach zumute, ein paar Mal so richtig schön entspannt durchzuatmen. Aber darauf würde sie wohl verzichten müssen. »Ja. Tom ist wie Justin ein Vampir. Was nun Elizabeth angeht, steht es mir eigentlich nicht zu, dir ihr Geheimnis preiszugeben, aber da sie sich selbst vor dir gezeigt hat, hat sie es dir in gewisser Weise auch schon selbst gesagt.« Sie hielt inne. »Elizabeth ist ein Ghul.«
Stella biss sich auf die Lippen. Zu dumm, dass sie Sam nicht schon vor fünf Minuten weggebracht hatte! Michael starrte ins Leere, sein Kinn fiel ihm herunter, während die Augenbrauen hochschossen, und er demonstrierte, dass Gestaltwandler in der Lage waren zu hyperventilieren. »Ein Ghul!« Er wurde sogar laut, so geschockt war er. »Ein Ghul! Diese lebenden Toten? Die verfluchten Sklaven von Vampiren?«
»Überhaupt nicht!« Sam klang regelrecht verärgert. »Wie kannst du so was Dummes sagen? Sie ist nicht verflucht, und sie ist auch kein Sklave. Von niemandem.« Er schüttelte den Kopf, als staunte er darüber, wie dumm Erwachsene sein konnten. »Tom beschwert sich ständig darüber, dass sie nie zuhört und nie tun will, was er sagt. Das klingt nicht besonders nach Sklave, oder?« Er verschränkte die Arme und tippte mit dem Fuß auf den Boden. Michael sollte sich lieber in Acht nehmen, oder er würde es mit Sam zu tun bekommen.
Michael nahm sich die kleine Standpauke letztlich sehr zu Herzen. »Tom? Der zweite Vampir? Der mit deinem Vater ankam?«
»Genau«, sagte Sam. »Du kennst meinen Vater?«
»Ja, Sam. Wir haben uns vor zwei Nächten kennengelernt. Ich war schwer verletzt, und er hat mir womöglich das Leben gerettet. Dafür bin ich ihm ewig dankbar.«
»Musst du gar nicht. Er macht das ständig. Er ist Arzt.« Und wie stolz Sam auf ihn war!
Stella musste einfach lächeln. Sam war stolz darauf, Justins Sohn zu sein, und sie war stolz, Justins Frau zu sein. Es drängte sie, Justin zu sehen, aber im Moment war Sam noch beschäftigt, und er würde die Angelegenheit möglicherweise besser erklären können als sie oder Antonia.
»Aha.« Michael runzelte die Stirn und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Das heißt also, Sam, sowohl dein Vater als auch dieser Tom sind Vampire und können ihre Gestalt wechseln. Und Elizabeth ist ein Ghul. Aber hast du nicht gesagt, dass sie früher mal deine Babysitterin war?«
»Klar, war sie auch, als wir noch in Columbus gewohnt haben und Mum in Dixies Vampirparadies gearbeitet hat. Jetzt brauche ich keinen Babysitter mehr.«
Michael setzte sich. Gut. Sie war nicht allzu erpicht darauf, zu erfahren, ob Gestaltwandler in Ohmacht fielen, wenn sie geschockt waren oder zu viele unglaubliche Informationen auf einmal zu verdauen hatten. »Mit Sicherheit nicht«, sagte er mit einem bemerkenswerten Lächeln. Dann wandte er sich Stella zu, in seinen dunklen Augen lag ein fast vorwurfsvoller Blick. »Welche Mutter heiratet denn einen Vampir und lässt einen Ghul auf ihr Kind aufpassen?«
»He!« Sam erhob seine junge Stimme, ehe sie überhaupt zu antworten versuchen konnte. »Wie kommst du dazu, so mit meiner Mum zu reden! Sie ist die beste Mum auf der ganzen Welt, und ich sage dir, welcher Art Mutter ich einen Vampirvater zu verdanken habe – einer Vampirmutter! Jetzt weißt du’s!«
Der letzte Nachsatz klang fast schon ein bisschen unverschämt, aber da er nun ganz nahe herangekommen war und den Arm um sie legte, ließ sie es durchgehen.
»Sie sind auch ein Vampir?«
Stella hatte größtes Verständnis für seine Verwirrung. Immerhin war es noch gar nicht so lange her, da hatte sie selbst noch geglaubt, Vampire kämen nur in Mythen und Märchen vor. Aber verflixt, als Gestaltwandler sollte er das doch verstehen.
»Hast du vielleicht was gegen Vampire?«, fragte Antonia mit ätzend scharfer Stimme.
Wenn Michael auch nur halbwegs bei Verstand war, dann würde er sich seine Antwort jetzt gut überlegen.
»Das ist es nicht, Antonia, und du weißt es. Dich hab ich sofort akzeptiert. Justin verdanke ich mein Leben, aber plötzlich festzustellen, dass das halbe Dorf aus Vampiren besteht, nun …«
»Am Anfang ist es schon ein bisschen komisch«, sagte Sam, indem er vortrat und Michael verständnisvoll, von Mann zu Mann sozusagen, auf die Schulter klopfte. »Ich war ganz verwirrt, als ich es erfahren habe, aber man gewöhnt sich daran, ehrlich. Und du veränderst immerhin auch deine Gestalt, verwandelst dich in eine große, unheimliche Katze. Wo ist da der Unterschied?« Er zuckte leicht mit den Schultern. »Ihr seid alle anders als die anderen Menschen.«
»Und du?«, fragte Michael und nahm Sams freie Hand. »Auf welche Weise bist du anders?«
»Überhaupt nicht. Ich bin nur ein kleiner Junge, der seine Hausaufgaben machen und sich morgens und abends die Zähne putzen muss.«
»Aber dein Vater und deine Mutter sind beide Vampire. Ist das nicht manchmal komisch?«
Er zuckte wieder mit den Schultern. »Ein bisschen. Aber die meisten Kinder finden ihre Eltern ab und zu komisch. Eigentlich sind alle Erwachsenen sowieso komisch. Aber ich habe dafür Eltern, die sind superstark, und einen Dad, der ist so alt, dass er super-super-superstark ist. Sie würden niemals zulassen, dass mir jemand wehtut. Welches Kind kann das schon sagen?«
»Aber heute Nachmittag …«, begann Michael.
Sam fuhr im regelrecht ins Wort. »Ach das!« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe mir Sorgen um James gemacht, weil er verletzt war und so sehr geblutet hat, aber sobald ich nach Dad gerufen habe und er gesagt hat, er würde kommen, wusste ich, dass er uns retten würde, und ich hab ja auch recht gehabt. Alle sind sie gekommen, um mir zu helfen, sogar du. Es ist alles in Ordnung, Michael, wirklich. In der Kolonie hilft jeder jedem, und wenn du erst einmal mit Antonia verheiratet bist, gehörst du auch dazu.«
Michael nickte. Was da aus dem Mund eines Kindes kam, würde er sicher erst einmal verkraften müssen.
»Wer spricht denn von Heiraten?«, fragte Antonia noch immer leicht angesäuert.
Sam wandte sich Antonia zu und rollte mit den Augen. Stella runzelte die Stirn. Darüber würde sie mit ihm ein Wörtchen reden müssen. »Komm, tu nicht so«, sagte Sam mit einem schelmischen Grinsen. »Wenn Mum und ich gegangen sind, habt ihr einen Riesenkrach, und dann beschließt ihr, dass eigentlich doch alles okay ist, und ihr vertragt euch wieder und heiratet. Darauf wette ich einen nagelneuen iPod!«
Das war ein Thema von vielen, über das man endlos debattieren könnte. »Jetzt aber, Sam, hör auf, Koloniegeheimnisse auszuposaunen. Wir müssen deinen Vater ausfindig machen.«
»Alles klar, Mum.« Sam klopfte Michael noch einmal kumpelhaft auf die Schulter. »Sei mal lieber nett zu Antonia. Sie ist echt nicht sonderlich in Stimmung.«
Stella verabschiedete sich mit Rekordgeschwindigkeit und suchte das Weite, ehe sie losgeprustet und damit alles kaputt gemacht hätte.
* * *
Michael starrte fortwährend auf die Tür. Antonia ballte die Fäuste. Gar nichts war okay zwischen ihnen. »Was für ein Prachtkerl!«, sagte er, wobei sein Lächeln durchaus eine gewisse Gesprächsbereitschaft signalisierte.
»Ja, er ist wirklich süß.« Sam war kein schlechter Anknüpfungspunkt. Besser als die meisten jedenfalls. »Stella hat für ziemlichen Wirbel in der Kolonie gesorgt, als sie erzählte, dass sie ein Kind hat. Bis dahin hatte ich Gwyltha selten sprachlos gesehen, aber in dem Fall war sie es definitiv.«
»Wie können zwei Vampire ein Kind großziehen?« Er sprach leise, wie zu sich selbst, aber sie empfand seine Worte als Affront gegen sich selbst, ihre Kolonie, deren Werte.
»Wie jedes andere Elternpaar auch: mit viel Liebe, Gebeten und zwischendurch ein bisschen Frust und Seelenqual.«
Michael wandte sich mit gespannter Miene an sie und schüttelte den Kopf. »Aber sie sind Vampire.«
»Das bin ich auch, Michael.« Diese Feindseligkeit machte ihr sehr zu schaffen. Es bestand Klärungsbedarf. Wie konnte er so abweisend sein gegenüber ihresgleichen?
Er dachte kurz nach und zuckte dann mit den Schultern. »Gerade wollte ich sagen, da gäbe es doch einen Unterschied, aber ich hab mich wohl getäuscht, oder?«
Bei Abel, warum war er so ablehnend gegenüber ihr und ihresgleichen? »Stimmt, Michael, es gibt keinen Unterschied. Wir sind alle Blutsauger. Wir sind alle schon mal gestorben. Wir werden alle sehr, sehr lange leben, und eines Tages, in gar nicht so ferner Zukunft, werden Justin und Stella sich um einen greisen Sam kümmern und dabei zusehen, wie er allmählich stirbt. Zunächst einmal sind sie jedoch damit beschäftigt, ein ziemlich außergewöhnliches menschliches Wesen heranzuziehen. Was kann daran falsch sein?«
Danach war er ein Weilchen sprachlos. »Nichts, Antonia, meine Liebe.« Wenigstens war sie immer noch seine Liebe, immerhin. »Ich bin so ein Volltrottel!«
Auf der ganzen Linie. Aber das würde sie für sich behalten. »Es gibt nun mal Vampire auf dieser Erde. Das ist keine einfache Vorstellung, auch für einen Gestaltwandler.« Den Schlenker konnte sie sich nicht verkneifen. Aber verdammt, Michael war doch nicht der ganz normale Durchschnittssterbliche von der Straße.
»Der kleine Sam scheint kein Problem damit zu haben.«
Letztlich kamen sie immer wieder auf Sam zurück. »Sam ist ein Kind. Vampire waren immer ein Teil seiner Welt. Stella war diejenige, die Probleme hatte. Sie musste sich erst einmal einstellen auf die neue Situation. Sam hat sie einfach akzeptiert.«
»Wie wurde Stella überhaupt zum Vampir?«
Wie viel konnte sie ihm erzählen? Er war bereit zuzuhören und zu verstehen. »Mit Nichtvampiren sprechen wir über das Thema Verwandlung normalerweise nicht, aber da du ohnehin schon einiges weißt … Stella wurde von einem Straßenrowdy erschossen. Daraufhin hat Justin sie verwandelt, weil er die Vorstellung nicht ertrug, dass Sam allein zurückbleiben und bei einer Pflegefamilie landen würde.« Sein Zucken verriet ihr, dass er nicht gänzlich ungerührt war. »Stella war ein Einzelkind, hatte bloß ihre Mutter, und die saß im Knast. Justin hat sie Sam zuliebe verwandelt, und angeblich soll sie Justin danach beinahe den Hals umgedreht haben.«
Er nickte bedächtig. »Verstehe.« Kaum zu glauben, oder doch? Immerhin wusste Michael, was es hieß, anders zu sein. – »Wie war das denn bei dir? Waren deine Eltern Gestaltwandler?«
Bei der Frage zuckte er zusammen. Gut, sie hatte das Thema abrupt gewechselt, aber so abwegig war die Frage nicht. »Nein.« Er schüttelte den Kopf und kräuselte die Stirn. »Um genau zu sein, ich weiß es nicht. Ein Elternteil zumindest musste es gewesen sein, nehme ich an, aber …« Sie wartete ab, wusste, dass noch mehr folgen würde. Dem Ticken der Wanduhr nach zu urteilen, schien eine Ewigkeit vergangen, als er fortfuhr. »Ich wurde, ganz wie in einem viktorianischen Roman, vor einer Klosterpforte abgelegt. Da war ich ungefähr zwei. Ich hab keine Erinnerung daran, aber man hatte mir wohl einen Zettel an die Jacke geheftet, worauf stand: ›Bitte kümmert euch um Michael. Er ist ein guter kleiner Junge.‹
Das war’s. Nichts weiter. Die Nonnen holten mich rein und gaben mich, ihrer Gepflogenheit gemäß, zu einer Pflegefamilie.« Er lächelte, als ihre Blicke sich kreuzten. »Nein, keine Horrorgeschichten von Missbrauch oder Verwahrlosung. Die Nonnen gaben mir den Namen Langton nach irgendeinem Wohltäter des Klosters in grauer Vorzeit. Die Marshes, meine Pflegeeltern, waren gute Leute. Mr Marsh, eigentlich Dachdecker von Beruf, war abgestürzt und hatte sich ein Bein gebrochen und es infolge von Wundbrand verloren. Er und Mrs Marsh verdienten sich mit der Annahme von Pflegekindern ihren Lebensunterhalt. Meist waren wir zu dritt oder zu viert. Manche kamen und gingen. Oft hatten sie kleine Babys nur für ein paar Wochen, bis sie jemand adoptierte. Andere wiederum, so auch ich, blieben Jahre.
Ich war nicht anders als die anderen Kinder, dachte ich zumindest. Ich konnte schneller laufen als jeder andere. In der Schule bekam ich dafür Preise, und einmal gewann ich sogar einen Pokal bei einer Kreismeisterschaft. Mit dreizehn war ich der jüngste Läufer gewesen, habe mich aber trotzdem gegen ältere Konkurrenten durchgesetzt. Ich dachte sogar, ich könnte Karriere machen als Läufer. Im selben Sommer ging’s dann in ein Pfadfinderlager. Einmal konnte ich nachts nicht schlafen, und ich lief im Pyjama durch die Wälder. Ich fühlte mich rappelig und quicklebendig – nicht ganz ungewöhnlich für einen dreizehnjährigen Jungen –, aber dann juckte es plötzlich überall und tat weh, und ich hatte das Gefühl, meine Haut wurde mir zu eng. Mein Pyjama zerriss, und ich schaute nach unten und sah pelzige Pfoten und Arme. Ich bekam es mit der Angst zu tun und rannte los, rannte und rannte, und kam wie von alleine zu genau derselben Stelle zurück. Es waren Stunden vergangen, und es stellte sich heraus, dass sie nach mir suchten. Ich weiß nicht, wie ich mich zurückverwandelt habe, tat es aber, zog an, was von meinem Pyjama übrig geblieben war und trottete ins Pfadfinderlager zurück.
Ich bekam Ärger, weil jemand eine große, gelbbraune Wildkatze in den Wäldern gesehen hatte, nachdem sie festgestellt hatten, dass ich nicht mehr im Zelt war. Die Anführer hatten natürlich Angst, ich könnte zerrissen oder gefressen worden sein. Zur Strafe wurde ich bis zum Ende der Freizeit zum Kartoffelschälen und Zwiebelschneiden abgestellt. Dadurch hatte ich jede Menge Zeit zum Nachdenken und ich kam zu dem Schluss, dass alles mehr oder weniger bloß ein Traum gewesen war.
So ging es neun Monate, bis ich mich eines Tages in meinem Zimmer bei den Marshes verwandelte. Ich war fast vierzehn, kurz davor, die Schule zu verlassen und mir Arbeit zu suchen – eine höhere Schulbildung kam für Findelkinder in dieser Zeit nicht infrage. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich mich in dem fleckigen Spiegel an der Schranktür gesehen habe. Ich habe mich zu Tode gefürchtet. Dann wurde mir klar, dass das mein Geheimnis war, von dem nie jemand erfahren würde.
Ich ging in die Bibliothek, um etwas über mich zu erfahren. Da gab es einiges über Werwölfe, aber nichts über gestaltwandlerische Katzen. Ich fand heraus, dass ich mich in einen Puma verwandelte, aber das war keine große Hilfe. Ich hab mich oft gefragt – und tu das übrigens noch immer –, ob meine Mutter über meine Natur Bescheid wusste. Wer weiß? Wie auch immer, ich musste die Schule verlassen und mir einen Beruf suchen. Mr Marsh hatte einen Cousin, der Töpfer in Farnham war, gar nicht weit von hier. Komisch, wie es mich wieder hierher zurückverschlagen hat. Ich machte also dort meine Ausbildung, zufälligerweise als der Betrieb seine beste Zeit schon hinter sich hatte. Nach meinem Weggang hielt er sich noch Jahrzehnte über Wasser, produzierte aber am Ende nur noch Blumentöpfe und Gartenware. Zu meiner Zeit gingen die Produkte an die teuersten Luxusläden in London. Ich lernte also das Töpferhandwerk und war die meiste Zeit über der einzige Lehrling. Ich hatte einen großen Speicher ganz für mich alleine, und wenn mich das Bedürfnis überkam, mich zu verwandeln, konnte ich das tun und direkt losrennen. Später, nach Ende meiner Lehrzeit, arbeitete ich bei verschiedenen Töpfereien im ganzen Land, und meine Ferien verbrachte ich in den entlegensten Ecken: in Moor- und Hochlandgebieten und in den Bergen von Schottland und Wales. Hin und wieder lernte ich andere Gestaltwandler kennen. Beim ersten Mal war ich verblüfft, denn wir erkennen uns, in menschlicher Gestalt wohlgemerkt, auf den ersten Blick. Es beginnt schon damit, dass wir anders riechen. Ich kann dir gar nicht sagen, was das für ein Gefühl war, zu entdecken, dass ich nicht allein auf der Welt war. Aber wir halten nicht richtig Kontakt zueinander. Nicht zu vergleichen mit dem Zusammenhalt, den ihr pflegt, aber wir kennen uns und bieten uns auf Reisen gegenseitig Unterkunft.«
An der Stelle unterbrach er und schaute sie eindringlich an, als wollte er sehen, wie sie seine Geschichte aufnahm. In ihrem alten, leidgeprüften Herzen empfand sie ein tiefes Mitgefühl für den Jugendlichen, der einsam und allein seine wahre Natur entdeckte. Und auch an seine arme Mutter musste sie denken. Hatte sie von Michaels wahrer Natur gewusst, als sie ihn weggab? Oder war ihr der Säugling auf die eine oder andere Art einfach nicht geheuer, worauf sie ihn im Stich ließ? Keiner würde das je erfahren. Und welche Geheimnisse diese Sterbliche auch kannte, sie hatte sie mit ins Grab genommen. Sie lächelte ihm zögernd zu. Er hatte ihr viel erzählt, aber sie liebte ihn doch so sehr und wollte, nein musste seine Vorgeschichte kennen, und er hatte das Bedürfnis, sie ihr zu erzählen. Sie kam näher und nahm seine Hand. Seine Finger schlossen sich fest um ihre. »Michael«, flüsterte sie, »ich liebe dich.«
Seine dunklen Augen begannen zu leuchten. »Das hoffe ich.«
»Du darfst nie daran zweifeln.«
»Was dich betrifft, habe ich keine Zweifel, aber was ist mit den anderen? Mit deiner Kolonie. Deine Gwyltha wirkte gestern Abend nicht gerade so, als würde sie mich akzeptieren.«
Männer! Oder vielmehr Gestaltwandler! Am liebsten hätte sie ihn mit dem Ellbogen gehörig gestoßen, begnügte sich aber damit, ihn vielsagend anzugrinsen. »Michael, du hast dich gerade an Sams Rettung beteiligt. Damit sind alle Zweifel beseitigt. Allerdings habe ich niemals welche gehegt«, fügte sie hinzu.
Seine süßen Lippen mit ihrem Geschmack von Abenteuer und Weite senkten sich auf ihre. Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken und zog ihn heran. Sie begehrte ihn unendlich. Ihr Körper schmiegte sich eng an ihn an, während seine Zunge ihre fand. Sie waren wie zwei wilde Tiere – okay, er war Gestaltwandler und sie Vampirin –, glühend vor Verlangen. Ihre Liebe schmiedete ihre Körper zusammen. Nie zuvor in ihrem langen, langen Leben war sie so glücklich gewesen.
Er unterbrach den Kuss, um Atem zu holen. Ab und an musste er das immerhin. »Alles in Ordnung?«, fragte sie, während sie darum betete.
»Soweit ja«, erwiderte er. »Durch dich vergesse ich meine Sorgen, Antonia.«
»Ist da noch was, das dich quält?« Sie drückte ihn fest an sich, um ihn und sich selbst zu beruhigen.
»Ja, aber ich werde mich wohl arrangieren müssen, wenn ich den Kontakt zu dir und deiner Mischpoke nicht aufgeben will, nicht wahr?«
»So schlimm sind wir nun auch wieder nicht, und nach diesem Nachmittag wird keiner mehr, weder Gwyltha noch sonst jemand, deinen Nutzen für die Kolonie infrage stellen.«
»Oh je, mich erinnert sie an meine Schuldirektorin, diesen alten Drachen.«
»Glaub mir, es ist sehr viel schwieriger, einen Haufen Vampire auf Linie zu halten als ein paar Schulkinder.«
»Da hast du vielleicht recht.« Er lächelte sogar. Hatte sie ihn nun wieder, oder zögerte er noch? »Du bist also nur im Paket mit der Kolonie zu haben?«
Ja! »So ist es.«
»Damit kann ich leider nicht dienen. Gestaltwandler sind Einzelgänger.«
»Du allein genügst mir, Michael. Mehr will ich gar nicht.« Mehr verlangte sie auch nicht.
»Ich liebe dich, Antonia, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich deine Kolonie liebe.«
»Können wir daran nicht arbeiten? Ich lebe doch nicht mit der Kolonie, sondern will mit dir leben.«
»Du meinst, du ziehst aus diesem Luxuslandhotel direkt in meine Hütte auf der Wiese?«
Ihr Herz war eigentlich nicht in der Lage, sich zusammenzuziehen oder zu flattern, brachte aber irgendwie beides zustande. »Warum nicht?«
Er nahm ihre Hand, führte sie an das Sofa und ließ sie neben sich Platz nehmen. »Hier können wir ganze Abende zubringen und uns darüber unterhalten, wie wir nach Einbruch der Dunkelheit auf die Jagd gehen. Und einen zusätzlichen Kühlschrank für deine Blutbeutel werde ich auch anschaffen.«
»Ich seh schon, dieser nagelneue iPod ist wohl fällig. Sieht so aus, als hätte Sam die Wette gewonnen.«
»Ging es bei dieser Wette nicht um unsere Hochzeit?«
»Und?« Sie grinste. »Willst du unser Verhältnis nicht legalisieren?«
»Rein technisch könnte es da gewisse Schwierigkeiten geben, Darling. Meine Existenz ist nämlich ein wenig … unklar, will ich mal sagen. Meine Steuern laufen über eine Kapitalgesellschaft, und meinen Führerschein habe ich nur bekommen, indem ich, was mein Alter betrifft, geschwindelt habe.«
Da musste er noch einiges lernen. »Keine Sorge, Darling. Tom wird sich um alles kümmern.«
»Tom? Elizabeth’ Verlobter?«
»Richtig. Dank ihm haben wir immer gültige Pässe. Sag ihm nur, was du brauchst, und gib ihm ein paar Wochen Zeit.«
»Wie soll das denn gehen?«
»Keine Ahnung. Er klagt zwar ständig, dass es von Jahr zu Jahr schwieriger wird, aber bis jetzt hat er es noch immer geschafft. Ganz legal ist es wahrscheinlich nicht, aber es hilft uns zurechtzukommen. Er bringt sicher auch deine Sachen in Ordnung.«
»Und du meinst, ich soll ihm trauen?«
»Warum nicht? Wir trauen ihm doch auch, und das seit mehreren hundert Jahren.«
Michael lehnte sich in die weichen Kissen zurück und schloss die Augen. Sie sah, wie das Licht auf seinen langen, goldfarbenen Wimpern und den markanten Konturen seines Gesichts spielte. Ihrer beider Leben aufeinander abzustimmen, wäre sicher kein Leichtes, aber einen Versuch war es allemal wert. Nach langem Schweigen öffnete er die Augen und sah sie an. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln. »Gut. Vielleicht sollten wir uns die Kosten für diesen iPod teilen.«
Sie kuschelte sich an seine Schulter und lachte. »Manchmal glaube ich, Sam weiß viel zu viel für sein Alter.«
»Was hättest du denn bei dem Umgang anderes erwartet?« Harsche Worte, aber seine Stimme klang sanft. Da war keine Spur von Verunsicherung oder Angst im Spiel, nur Zustimmung. Abel sei Dank. »Es ist also alles erledigt. Einfach so.« Da war sie wieder. Diese verdammte Skepsis. So ganz hatten sie noch keine gemeinsame Ebene gefunden.
»Wir können ja mal sehen, aber ich denke schon. Justin und Gwyltha kümmern sich um James und darum, dass er sich nur an das erinnert, was nötig ist. Und um Judy haben sich Elizabeth und Tom gekümmert.«
»Und Sam ist auch schon versorgt? Ihr pfuscht einfach in ihren Köpfen herum? Richtet euch alles für euch passend ein?«
Er fing schon wieder an herumzuzicken. »Nein, wir pfuschen keineswegs in anderen Köpfen rum. Wir löschen lediglich das, woran sie sich, zu unser aller Schutz, nicht erinnern sollen. Überleg doch mal. Diese Ganoven sollen gefasst werden und im Knast landen, nicht wahr? Man wird sie da draußen finden. Mit ein bisschen Glück decken sich ihre Fingerabdrücke mit den am Einbruchsort gefundenen. Die Burschen werden sicher mit James Verletzung in Zusammenhang gebracht, und ich wette, bei dieser Kanone handelt es sich genau um dieselbe, mit der dieser Wachmann erschossen wurde. Die Juwelen sind schon bei der Polizei. Es ist alles wunderbar geregelt. Mögliches Gefasel seitens dieser Ganoven über wilde Pumas oder Adlerattacken wird man als Unsinn abtun. Sicher, ihre Verletzungen könnten verdächtig wirken, aber nicht besonders. Man wird einfach glauben, dass sich da ein paar Diebe in die Haare gekriegt haben.
Und was nun Sam angeht: Meinst du wirklich, er muss sich unbedingt daran erinnern, entführt worden zu sein? Oder daran, dass auf James geschossen wurde und er in diesem dunklen Van das ganze Blut abgekriegt hat? Und was ist mit James und Judy? Wenn James etwas von einer Großkatze und zwei Adlern erzählt, könnte das immer noch als Halluzination infolge von Stress und Schmerzen abgetan werden. Aber auch Judy hat vom Rücksitz des Vans aus alles aus nächster Nähe gesehen. Sie würde als Zeugin ernst genommen werden. Da ist es doch sicherer, sie aus dem Spiel zu ziehen. Sie wird beizeiten von James Verletzung hören und ans Krankenlager eilen. Die zwei können ihr Leben in Ruhe weiterführen und wir auch. Und diese beiden unangenehmen Kreaturen sind aus dem Verkehr gezogen.«
Er nickte. Anscheinend hatte er die Erklärung nun doch kapiert. »Eine vorsichtige Bemerkung will ich noch machen, Liebste. Wie du weißt, hat dieser Chadwick einen ziemlich fadenscheinigen Ruf hier in der Gegend, und Judy ist die Tochter des hiesigen Pfarrers und, nach allem, was man hört, ein anständiges Mädchen.«
»Das stimmt, aber sie hat ihren eigenen Kopf und weiß genau, was sie will. Vielleicht braucht er ja genau das, jemanden, der ihm sagt, wo’s langgeht. Wer weiß? Aber das geht alleine die beiden was an.«
»Ja.« Er schwieg ein paar Herzschläge lang. Dann wandte er sich ihr zu und legte eine Hand auf ihren Busen. Sie war erleichtert und bekam sofort Lust. »Alles klar«, sagte er, als er nacheinander zwei Knöpfe an ihrer Bluse aufmachte. Seine Finger fühlten sich warm und sanft auf ihrer Haut an.
Es konnte die ganze Nacht dauern, was sie betraf. Die ganze Nacht und die nächsten paar Hundert Jahre.